Im Juni widmeten wir uns im KI-Treff dem Thema „KI und Barrierefreiheit“. Dr. Thorsten Schwarz, Leiter der Literaturaufbereitung und des Accessibility Labs des Zentrums für digitale Barrierefreiheit und Assistive Technologien am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), gab uns einen umfassenden Einblick in die Möglichkeiten, aber auch die Herausforderungen für ein Einsatz von KI in diesem wichtigen Thema. Wie Dr. Schwarz betont: Es geht nicht darum, Barrieren im Nachhinein zu beseitigen, sondern Technologien von Grund auf so zu gestalten, dass sie allen Menschen gleiche Teilhabe ermöglichen.
Mehr als nur ein Gesetz: Warum Barrierefreiheit alle betrifft
Barrierefreiheit ist nicht nur eine Frage der Gesetzeskonformität ist, sondern betrifft uns alle. Was viele nicht wissen: Schon seit 2019 müssen öffentliche Einrichtungen alle Informationen, Webseiten und digitalen Angebote barrierefrei gestalten. Ab dem 28. Juni 2025 tritt dann der European Accessibility Act in Kraft und verpflichtet auch Unternehmen dazu, ihre digitalen Produkte und Dienstleistungen für alle Menschen zugänglich zu machen.
Doch Barrierefreiheit ist mehr als eine Pflichtaufgabe. Sie bietet uns die Chance, digitale Angebote attraktiver und benutzerfreundlicher zu gestalten – für alle. Ein Beispiel dafür sind Untertitel in Videos, die nicht nur Menschen mit Hörbehinderung unterstützen, sondern beispielsweise auch für alle hilfreich sind, die Inhalte ohne Ton verfolgen möchten.
Konkrete Anwendungsbeispiele aus dem Hochschulalltag
Wie können wir aber KI konkret nutzen? Anhand von Praxisbeispielen zeigte Dr. Schwarz, wie KI die Erstellung barrierefreier Angebote erleichtern kann.
Texterkennungssoftware: KI kann handgeschriebene Texte erkennen und in editierbare digitale Formate umwandeln. Dies ist insbesondere für Menschen hilfreich, die aufgrund motorischer Einschränkungen Schwierigkeiten mit dem Schreiben haben. Beispielsweise kann ChatGPT (auch in der kostenlosen Version) hochgeladene Fotos von handschriftlichen Notizen inzwischen ganz gut entziffern.
Automatische Bildbeschreibungsgeneratoren: KI-basierte Tools können Bilder analysieren und kurze Texte erstellen, die blinden Menschen mithilfe von Screenreadern den Inhalt der Bilder erschließen. Dr. Schwarz verglich verschiedene Programme und zeigte, dass die Qualität der Bildbeschreibungen allerdings stark variieren kann. Besonders amüsant war das Beispiel einer schiefen Ebene aus einem Physikbuch, bei der die KI mit der Interpretation der geometrischen Formen und physikalischen Zusammenhänge sichtlich überfordert war. Für weniger komplexe Abbildungen, beispielsweise die Bildwelt der eigenen Homepage oder Bildmaterial im Lernkontext, können aber Tools wie Gemini und ChatGPT schon die Arbeit erleichtern, indem Alternativtexte und Bildbeschreibungen automatisiert generiert werden können.
Formelverarbeitung: KI kann mathematische Formeln erkennen und in eine für Screenreader lesbare Form bringen, zum Beispiel in die lineare Formelnotation (LaTeX), die blinden Menschen die Arbeit mit mathematischen Formeln am Computer erleichtert.
Automatische Transkription: KI-basierte Software kann Audio- und Videoaufnahmen in Echtzeit transkribieren und so Menschen mit eingeschränktem Gehör den Zugang zu Lehrveranstaltungen erleichtern. Solche Funktionen sind bereits in Programmen wie Microsoft Teams und Zoom integriert, auch YouTube bietet teilweise automatisch generiere Untertitel an. Wie eingangs bereits erwähnt, profitieren davon auch alle diejenigen, die ohne Ton an Meetings teilnehmen oder Videos schauen wollen oder müssen. Generell kann eine zusätzliche Untertitelung zum allgemeinen Verständnis beitragen und KI ermöglicht einen Weg, diese ansonsten sehr zeitaufwendige Aufgabe zu einem realistischen Ziel zu machen.
Darüber hinaus kann KI dazu beitragen, digitale Publikationen barrierefreier zu gestalten. Das EPUB-Format bietet hierfür eine gute Grundlage, da es im Gegensatz zum PDF-Format die Integration von interaktiven Elementen und KI-basierten Funktionen erlaubt. So könnten beispielsweise personalisierte Bildbeschreibungen oder Übersetzungen direkt in ein E-Book integriert werden.
Die Zukunft der barrierefreien Kommunikation: KI als Hoffnungsträger
Dr. Schwarz zeigte sich zuversichtlich, dass KI in Zukunft noch stärker zur Verbesserung der Barrierefreiheit beitragen wird. Die rasante Entwicklung in diesem Bereich lässt erwarten, dass in den kommenden Jahren viele Herausforderungen der digitalen Barrierefreiheit durch KI gelöst werden können. Besonders vielversprechend sind in diesem Zusammenhang auch der Einsatz von KI in bzw. für die Gestaltung von virtuellen und Mixed-Reality-Anwendungen: Diese könnten Menschen mit Behinderungen ganz neue Möglichkeiten der Teilhabe eröffnen, indem sie beispielsweise virtuelle Umgebungen simulieren, die an individuelle Bedürfnisse angepasst sind. Spannende Entwicklungen rund um das Thema virtuelle Realitäten verfolgt die KEB übrigens bei der Beratungsstelle VR, AR, Gamification.
Natürlich gibt es neben den vielen Möglichkeiten, die KI bietet, auch Herausforderungen zu bedenken. Die Anpassung bestehender Software und die Auswahl der richtigen KI-Tools sind nur zwei davon. Um das volle Potenzial von KI für die Barrierefreiheit auszuschöpfen, braucht es außerdem eine stärkere Sensibilisierung von Entwicklern, Designern und allen, die an der Gestaltung digitaler Angebote beteiligt sind. Dr. Schwarz betonte, dass KI ein enormes Potenzial für die Verbesserung der Barrierefreiheit bietet. Gleichzeitig warnte er aber auch vor überzogenen Erwartungen. KI-Systeme seien noch nicht perfekt und machen immer wieder Fehler. Daher ist es wichtig, die Ergebnisse von KI-Anwendungen stets kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls zu korrigieren.
Fazit: KI und Barrierefreiheit
Dr. Schwarz hat uns eindrucksvoll gezeigt, dass KI bereits heute einen wichtigen Beitrag zur Barrierefreiheit leistet. Die vorgestellten Anwendungsbeispiele machen deutlich, dass KI das Potenzial hat, digitale Informationen und Technologien für alle Menschen zugänglich zu machen. Schon jetzt gibt uns KI die Möglichkeit, die nicht geringfügige Herausforderung barrierefreier Umgestaltungen in allen digitalen Produkten mit größerer Leichtigkeit anzugehen. Es bleibt spannend zu beobachten, welche neuen Möglichkeiten sich in Zukunft durch die Weiterentwicklung der Künstlichen Intelligenz ergeben werden.